von Andrea Rost, Frankfurter Rundschau vom 14.11.2020
83 Apfelbäume auf Kelkheimer Streuobstwiesen haben Profis jüngst von Misteln befreit. Das Hessische Umweltministerium fördert das Projekt, damit die Obstbäume überleben können.
Die buschigen Zweige mit den grünen Blättern und den weißen Beeren sind hübsch anzusehen, wenn sie an Weihnachten im Türrahmen hängen. Paaren, die sich unter einem Mistelzweig küssen, soll Glück beschieden sein. Auch allerlei Heilkräfte werden der Mistel zugeschrieben. Für die Obstbäume auf den Streuobstwiesen in der Rhein-Main-Region jedoch sind die dunkelgrünen Laubkugeln in den letzten Jahren zu einer tödlichen Gefahr geworden.
Als Halbschmarotzer bohren Misteln ihre Wurzeln in die Leitbahnen der Wirtsbäume und klauen ihnen bis zu 30 Prozent des Wasser- und Nährstoffbedarfes. Für die Bäume, die durch den Klimawandel und die große Trockenheit der letzten Jahre ohnehin schon geschwächt seien, bedeute das zusätzlichen Stress, weiß Maja Becker vom „Main-Taunus Naturlandschaft und Streuobst Verein“. „Die Lebenszeit der Bäume wird stark verkürzt.“ Ein Apfelbaum, der für gewöhnlich 120 Jahre lang auf einer Streuobstwiese stehe könne, halte dann nur noch 60 Jahre durch.
Maja Becker ist ausgebildete Försterin. Seit Mai dieses Jahres arbeitet sie beim „Main-Taunus Naturlandschaft und Streuobst Verein“ mit und ist zuständig für das Mistelprojekt, für das es vom hessischen Umweltministerium Fördermittel gibt. 10 000 Euro standen in diesem Jahr erstmals für die Mistelentfernung im Main-Taunus-Kreis zur Verfügung.
Anfang November war es so weit: Sieben Baumschneider der „Schlaraffenburger Streuobst Agentur“ kletterten mit Leitern und langen Seilen in die knorrigen Apfelbäume in Kelkheim-Fischbach. 83 Obstbäume seien von den grünen Blattkugeln befreit worden, berichtet Maja Becker. Der örtliche Obst- und Gartenbauverein hatte Alarm geschlagen, nachdem sich die Misteln in den vergangenen Jahren immer mehr auf den Streuobstwiesen rund um den Gimbacher Hof ausgebreitet hatten.
Von den Pappeln und Weiden, die am Bach stehen, und in deren Kronen besonders viele Misteln wachsen, trugen Vögel die klebrigen Kerne der weißen Beeren in die Obstbäume. Auf dem weichen Holz konnten die Samen leicht keimen, bildeten kleine Pflanzen aus, die ihre Wurzeln im Lauf der Zeit bis zu 50 Zentimeter ins gesunde Holz getrieben und sich zu Kugeln mit bis zu einem Meter Durchmesser verzweigt haben.
„Früher haben Streuobstwiesenbesitzer:innen gewusst, wie sie mit den Misteln umgehen müssen. Dass sie keine schöne Dekoration sind, sondern den Bäumen schaden“, sagt Maja Becker. Die Misteln seien regelmäßig entfernt, die Bäume fachkundig beschnitten worden.
Heutzutage sei diese Kulturtechnik vielerorts in Vergessenheit geraten. Streuobstwiesen würden häufig sich selbst überlassen und nicht gepflegt. Geradezu explosionsartig vermehrten sich die Misteln in den Obstbäumen und hüllten die Kronen komplett ein. Um Streuobstwiesenbesitzern die Arbeit zu erleichtern, bietet der Landschaftspflegeverband Main-Taunus Naturlandschaft und Streuobst laufend Service und Unterstützung an. In diesem Jahr wurden außerdem erstmals 16 Streuobst-Baumwarte ausgebildet. Vor kurzem haben sie ihre Zertifikate erhalten.
Nächstes Jahr soll wieder Geld aus dem Programm zur Förderung der Biodiversität des hessischen Umweltministeriums für das Mistelprojekt im Main-Taunus-Kreis beantragt werden. Auch private Streuobstwiesenbesitzer:innen können dann die Arbeit von Profis auf ihren Grundstücken erledigen lassen. Wer die Misteln eigenhändig aus den Bäumen schneiden möchte, kann das ebenfalls jederzeit tun und sich dazu Rat bei den Experten des Landschaftspflegeverbandes holen.
Anders als viele vermuten, steht die Mistel nicht unter Naturschutz. Sie kann das ganze Jahr über aus befallenen Obstbäumen entfernt werden. Nur wer Misteln zu gewerblichen Zwecken schneiden und sie verkaufen möchte, braucht dafür eine Genehmigung.
von Andrea Rost, Frankfurter Rundschau vom 14.11.2020